Wenn Symptome Sinn machen: Neue Perspektiven auf psychische Störungen

Wenn Symptome Sinn machen: Neue Perspektiven auf psychische Störungen

25.05.2025

Warum ein anthropologischer Blick auf psychische Gesundheit so dringend gebraucht wird – und wie er sich mit einer personzentrierten Haltung verbinden lässt.

Eine unbewegte Statistik

Seit Jahrzehnten steigen die Verordnungen von Antidepressiva. Auch Psychotherapien sind besser verfügbar als je zuvor. Und doch zeigen weltweite Daten ein irritierendes Bild: Die Verbreitung psychischer Störungen – von Depression über Angst bis zur Suchterkrankung – sinkt nicht. Die Krankheitslast bleibt hoch, gemessen an Lebensjahren mit Einschränkungen oder vorzeitigem Tod.

Wie ist das möglich?

Kristen Syme und Edward Hagen stellen in ihrem wegweisenden Fachaufsatz von 2020 die entscheidende Frage: Haben wir womöglich ein grundlegendes Missverständnis darüber, was psychische Störungen überhaupt sind?

Ihre Antwort ist keine einfache – aber eine erkenntnisreiche. Und sie weist in eine Richtung, die tief mit meiner eigenen therapeutischen Haltung resoniert: Die Bereitschaft, Symptome nicht als Defekte zu deuten, sondern als Hinweis auf ein sinnvolles, kontextgebundenes Erleben.

Die zentrale These: Psychische Gesundheit ist biologische Gesundheit

Der Artikel „Mental health is biological health“, erschienen im American Journal of Physical Anthropology, argumentiert gegen ein noch immer verbreitetes Denkmodell: die Trennung zwischen „Körperkrankheit“ und „psychischer Störung“. Während Infektionskrankheiten seit der Entdeckung von Bakterien und Viren heute differenziert verstanden und behandelt werden können, bleiben psychische Leiden vielfach im Dunkeln.

Das liegt nicht nur an der Komplexität des Gehirns. Sondern auch daran, dass die Konzepte, mit denen wir diese Phänomene beschreiben, häufig unscharf, widersprüchlich oder rein symptomorientiert sind.

Vier Gruppen psychischer Phänomene – und was sie unterscheidet

Um psychisches Leiden besser zu verstehen, schlagen Syme und Hagen ein alternatives Modell vor. Sie unterteilen psychische Zustände in vier Gruppen – nicht anhand von Diagnoselisten, sondern nach funktionalen und evolutionären Kriterien.

1. Entwicklungsbedingte, seltene Störungen mit genetischem Ursprung

Hierunter fallen zum Beispiel Schizophrenie oder schwere Formen von Autismus. Sie sind vergleichsweise selten, stark erblich und treten meist früh im Leben auf. Ihr stabiler Verlauf und die hohe interkulturelle Ähnlichkeit sprechen dafür, dass sie biologische Störungen darstellen – im engeren medizinischen Sinn.

In der Praxis bedeutet das: Diese Zustände erfordern Unterstützung, Schutzräume und interdisziplinäre Begleitung. Aber auch hier gilt: Eine pauschale Klassifikation ersetzt nicht das Verstehen der individuellen Lebenswirklichkeit.

2. Aversive, aber adaptive Reaktionen auf Belastung

Diese Gruppe ist für Syme und Hagen besonders relevant – und für viele Menschen sehr vertraut. Zustände wie depressive Verstimmung, Angst, Rückzug, Erschöpfung oder Hypervigilanz treten oft in belastenden Lebenssituationen auf: bei Verlusten, chronischem Stress, Ausgrenzung oder Gewalt.

Die Autoren argumentieren, dass diese Reaktionen möglicherweise evolutionär sinnvoll sind. Angst schützt. Rückzug spart Energie. Trauer hilft bei Bindungslösungen. Wenn solche Zustände überdauern, kann das daran liegen, dass sich die Belastung nicht verändert – nicht daran, dass etwas im Gehirn „kaputt“ ist.

In der modernen Gesellschaft, in der Dauerverfügbarkeit, Selbstoptimierung und Unverwundbarkeit hoch im Kurs stehen, wirken solche Symptome wie Funktionsstörungen. Doch sie könnten auch Hinweise darauf sein, dass etwas nicht stimmt – nicht im Individuum, sondern in seiner Umwelt.

Hier entsteht eine bemerkenswerte Nähe zur personzentrierten Haltung: Die Frage lautet nicht „Was stimmt nicht mit dir?“, sondern „Was macht in deinem Erleben Sinn, wenn man deine Geschichte kennt?“ Rogers nannte diese innere Stimmigkeit „Kongruenz“ – auch wenn sie in der Krise schmerzhaft sein kann.

Diese Sicht entlastet nicht, sie verharmlost nicht – aber sie lädt zur Einordnung ein, zur menschlichen Begegnung. Und sie öffnet den Raum für Veränderung, nicht durch Korrektur, sondern durch Beziehung.

3. Altersbedingte kognitive Störungen

Demenz, Alzheimer und andere kognitive Einschränkungen im Alter entstehen meist durch biologische Abbauprozesse. Hier stellt sich seltener die Frage nach dem Sinn des Symptoms – sondern nach Umgang, Würde und Halt.

Auch in diesem Bereich zeigt sich, wie sehr das menschliche Erleben durch Beziehung geprägt bleibt, auch wenn Sprache, Gedächtnis oder Orientierung nachlassen.

4. Mismatch-Störungen durch moderne Lebensbedingungen

Diese Gruppe verweist auf einen Bruch zwischen evolutionären Bedürfnissen und moderner Umwelt. Der Mensch ist für Bewegung, Gemeinschaft, rhythmisches Leben und sinnstiftende Aufgaben gemacht – nicht für Bildschirme, Lärm, Konkurrenz und Reizüberflutung.

ADHS könnte aus dieser Perspektive nicht nur als Störung verstanden werden, sondern als eine Art von Aufmerksamkeit, die in komplexer, handlungsorientierter Umgebung vorteilhaft war – aber heute oft aneckt. Auch chronischer Stress, Schlafprobleme oder Essstörungen lassen sich in diesem Licht betrachten: als Anpassungsversuche an eine überfordernde Welt.

Kritik an Diagnostik und Standardbehandlung

Syme und Hagen gehen mit dem derzeitigen Stand der Psychiatrie kritisch ins Gericht. Besonders deutlich wird das in ihrer Analyse der psychopharmakologischen Forschung:

  • Viele Medikamente wirken nicht besser als Placebos (wenn ungeschönte Studien berücksichtigt werden).

  • Die Theorie der „chemischen Imbalance“ gilt als wissenschaftlich überholt.

  • Antidepressiva oder Antipsychotika zeigen oft nur geringe Effektstärken und teils gravierende Nebenwirkungen.

  • Die Hoffnung, mit Genetik oder Bildgebung klare Diagnosen stellen zu können, hat sich bisher nicht erfüllt.

Die Autoren sprechen von einer „theoretischen Krise der Psychiatrie“. Und sie zeigen, dass dieser Mangel an Klarheit auch durch das weltweit etablierte Klassifikationssystem DSM befördert wird: ein Katalog von Symptomen ohne Ursachenverständnis, mit wachsender Anzahl an Diagnosen und fraglicher Validität.

Warum das alles für die Praxis zählt

Für die therapeutische Arbeit ist diese Debatte keine akademische Randnotiz. Sie berührt den Kern der Haltung, mit der einem Menschen begegnet wird.

Wenn Symptome ausschließlich als Zeichen innerer Defekte betrachtet werden, verengt sich der Blick. Der Mensch wird zu einem Träger von Kategorien, Skalen und Normwerten.

Wenn Symptome dagegen als Ausdruck eines Erlebensraums verstanden werden, der Sinn und Geschichte enthält, entsteht die Möglichkeit von Entwicklung – im Dialog, in Beziehung, in einem Raum, in dem das eigene Erleben Platz haben darf.

Es ist diese Haltung, die mir in der personzentrierten Arbeit besonders wichtig ist: Nicht zu korrigieren, sondern zu verstehen. Nicht zu beurteilen, sondern zuzuhören. Und nicht vorrangig zu behandeln, sondern zu begleiten – in einer Weise, die dem Menschen zutraut, sich unter günstigen Bedingungen in eine stimmige Richtung zu bewegen.

Fazit: Eine Einladung zum Perspektivwechsel

Der Aufsatz von Syme und Hagen ist keine Anklage gegen Psychiatrie oder Diagnostik. Er ist ein Plädoyer für Differenzierung, für Kontext und für ein tieferes Verständnis psychischer Prozesse. Und er zeigt, wie ein interdisziplinärer, anthropologisch informierter Zugang neue Wege aufzeigen kann.

Was in der Forschung unter „evolutionär“ firmiert, ist in der Praxis oft schlicht: menschlich. Es sind Trauerreaktionen, Schutzstrategien, Anpassungsversuche – nicht immer hilfreich, aber verstehbar. Und oft: nicht krank.


Syme, K. L. & Hagen, E. H. (2020). Mental health is biological health: Why tackling “diseases of the mind” is an imperative for biological anthropology in the 21st century. American Journal of Physical Anthropology, 171(Suppl. 70), 87–117.

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