Das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist: Carl Rogers’ Schlüssel zur Veränderung
18.11.2024 | Lesezeit: 3 min
Die personzentrierte Therapie, entwickelt von Carl Rogers, ist ein Ansatz, der Menschen in ihrer tiefsten Entwicklung unterstützt. Sie bietet keinen strikten Plan, keine schnellen Lösungen – und genau das macht sie so besonders. Ihr Kern liegt darin, Menschen zu helfen, sich von dem zu lösen, was sie nicht sind, und hin zu dem zu bewegen, was sie wirklich ausmacht.
Der Ausgangspunkt: Weg von Fassaden
Ein zentraler Aspekt der personzentrierten Therapie ist die Bewegung „weg von Fassaden“. Viele Menschen, die eine Therapie beginnen, haben über Jahre Rollen gespielt oder Masken getragen. Sie verstecken sich hinter diesen Fassaden – aus Angst vor Ablehnung, aus einem Gefühl von Unzulänglichkeit oder weil sie das Gefühl haben, den Erwartungen anderer entsprechen zu müssen.
Carl Rogers beschreibt in seinem Text eindrucksvoll, wie Klienten langsam beginnen, diese Masken abzulegen. Ein Klient könnte beispielsweise sagen: „Ich tue so, als ob ich selbstbewusst bin, aber innerlich habe ich das Gefühl, ich täusche alle.“ In der Therapie entsteht ein Raum, in dem solche Ängste ausgesprochen werden können. Allein die Möglichkeit, diese Masken zu erkennen und zu hinterfragen, ist oft der erste Schritt, um sich selbst näher zu kommen.
Weg von den „Ich-sollte“-Erwartungen
Ein weiterer Weg, den Klienten häufig einschlagen, ist der Abschied von internalisierten Erwartungen, den sogenannten „Ich-sollte“-Gedanken. Diese Vorgaben stammen oft aus der Kindheit oder aus gesellschaftlichen Normen. „Ich sollte erfolgreich sein“, „Ich sollte immer nett sein“ oder „Ich sollte so sein, wie andere mich haben wollen“ – solche Gedanken bestimmen viele Entscheidungen und führen oft zu einem Gefühl der Überforderung.
In der personzentrierten Therapie lernen Klienten, diese Stimmen zu hinterfragen: Was will ich wirklich? Muss ich diese Erwartungen erfüllen, um wertvoll zu sein? Die Antworten darauf sind nicht immer sofort klar, aber die Freiheit, sie überhaupt zu stellen, markiert eine bedeutende Veränderung.
Hin zu Authentizität: Das „wahre Selbst“ entdecken
Während Klienten lernen, sich von Fassaden und fremden Erwartungen zu lösen, beginnt eine Bewegung hin zu etwas Neuem: dem wahren Selbst. Für Rogers ist das wahre Selbst kein starrer Zustand, sondern ein Prozess. Klienten entdecken, dass sie nicht jeden Tag gleich fühlen oder handeln müssen. Sie erleben, dass sie authentisch sein können, auch wenn sie nicht perfekt oder immer konsequent sind.
Ein Klient könnte beispielsweise sagen: „Ich fühle mich wie ein Fluss – nicht festgelegt, sondern ständig in Bewegung. Und zum ersten Mal macht mir das keine Angst.“ Diese Erkenntnis ist oft eine der befreiendsten Erfahrungen in der Therapie.
Entwicklung hin zur Selbstbestimmung
Mit der Zeit übernehmen Klienten immer mehr Verantwortung für ihr Leben. Sie beginnen, ihre Entscheidungen bewusst zu treffen, basierend auf dem, was ihnen wirklich wichtig ist – und nicht auf dem, was andere erwarten. Diese Selbstbestimmung ist eine der zentralen Entwicklungen in der personzentrierten Therapie. Sie erfordert Mut, denn Freiheit bedeutet auch, die Konsequenzen der eigenen Entscheidungen zu tragen. Aber sie bringt gleichzeitig ein tiefes Gefühl der Ermächtigung mit sich.
Ein Beispiel aus Rogers’ Arbeit illustriert das eindrucksvoll: Ein Klient beschreibt, wie er aufhört, nur Dinge zu tun, um anderen zu gefallen. „Ich habe immer geglaubt, ich müsste mich anpassen, damit andere mich mögen. Jetzt merke ich, dass es wichtiger ist, dass ich mich selbst mag.“
Was passiert in der Therapie wirklich?
Die personzentrierte Therapie schafft einen Raum, in dem Klienten diese Bewegungen – weg von Fassaden und hin zur Authentizität – in ihrem eigenen Tempo vollziehen können. Der Therapeut gibt keine Lösungen vor, sondern begleitet den Klienten mit Empathie, Echtheit und bedingungsloser Wertschätzung. In dieser Atmosphäre fühlen sich Klienten sicher genug, ihre Ängste, Wünsche und Unsicherheiten zu erkunden.
Der Prozess ist nicht immer leicht. Rogers betont, dass die Freiheit, man selbst zu sein, oft mit Angst und Unsicherheit einhergeht. Doch diese Freiheit ist auch die Grundlage für Wachstum und Veränderung. Klienten entdecken, dass sie sich selbst vertrauen können, und entwickeln ein neues Verständnis dafür, wer sie wirklich sind.
Ein Weg, der sich lohnt
Zusammengefasst ist die personzentrierte Therapie eine Reise: weg von dem, was wir nicht sind, hin zu dem, was wir wirklich sein können. Sie lehrt uns, dass Veränderung nicht darin besteht, jemand anderes zu werden, sondern vielmehr darin, uns selbst immer besser kennenzulernen und zu akzeptieren.
Für Laien mag das zunächst abstrakt klingen, doch die Ergebnisse sind oft spürbar: mehr innere Ruhe, weniger Druck, anderen gefallen zu müssen, und eine stärkere Verbindung zu den eigenen Gefühlen. Carl Rogers’ Ansatz zeigt, dass echte Veränderung möglich ist – wenn wir bereit sind, uns selbst auf die Spur zu kommen.
Oder, wie Søren Kierkegaard es ausdrückte: „Das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist.“