Die meisten Menschen, die Antidepressiva nehmen, brauchen sie nicht

15.08.2023 | Lesezeit: 3 min

Viele Klienten mit Depressionen fragen in meiner Praxis nach, ob es nicht besser wäre, Antidepressiva zu nehmen. Meine erste Antwort ist immer, dass Medikamente nur von Ärzten verschrieben werden können, nicht von Psychologen. Das heißt, Hausärzte, Psychiater oder ärztliche Psychotherapeuten können ein solches Rezept aushändigen – aber nicht Psychologen oder psychologische Psychotherapeuten. Meine zweite Antwort ist: Die meisten Menschen brauchen diese Medikamente nicht. Der britische Economist hat darüber im Oktober des vergangenen Jahr einen großen Artikel geschrieben, aus dem ich hier berichte.

Vor fast 35 Jahren genehmigten die amerikanischen Arzneimittelbehörden Prozac, den ersten Vertreter einer Reihe von Blockbuster-Antidepressiva, die als selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) bekannt sind. Prozac und seine Verwandten wurden von Patienten und Ärzten als Wundermittel gepriesen. Sie konnten Stimmungstiefs schnell beseitigen und schienen keine Nachteile zu haben. Eine Scheidung, ein Trauerfall, Probleme bei der Arbeit – eine tägliche Pille half bei allem, was traurig machte. Viele Menschen haben diese Medikamente ein Leben lang eingenommen. In den westlichen Ländern nimmt heute jeder siebte bis zehnte Mensch Antidepressiva ein.

Nicht jede Studie wird veröffentlicht

Der Glanz der SSRIs ist verblasst. Eine wachsende Zahl von Studien zeigt, dass sie weniger wirksam sind als angenommen. Arzneimittelhersteller veröffentlichen die Ergebnisse klinischer Studien oft selektiv und halten diejenigen zurück, in denen sich die Medikamente als nicht wirksam erwiesen haben. Als die Ergebnisse aller Studien, die der amerikanischen Arzneimittelbehörde zwischen 1979 und 2016 vorgelegt wurden, von unabhängigen Wissenschaftlern geprüft wurden, stellte sich heraus, dass Antidepressiva nur bei 15 % der Patienten einen echten Nutzen haben, der über den Placebo-Effekt hinausgeht.

Die klinischen Leitlinien wurden in den letzten Jahren entsprechend überarbeitet. Bei weniger schweren Fällen von Depressionen sind Medikamente nicht mehr die empfohlene erste Behandlungslinie. In diesen Fällen sind Anleitungen zur Selbsthilfe, Psychotherapien und Empfehlungen für Bewegung und Schlaf vorzuziehen. Bei Burnout am Arbeitsplatz kann eine Krankschreibung für eine Auszeit genügen. Medikamente sollten nur bei schwereren Depressionen eingesetzt werden, wo sie wirklich lebensrettend sein können.

Die Nebenwirkungen sind oft schwer

Das Problem ist, dass viele Menschen, die keine Antidepressiva benötigen, diese immer noch einnehmen, weil sie vor Jahren oder sogar Jahrzehnten ausgestellte Rezepte wieder auffüllen. Ihnen sollte geholfen werden, von den Medikamenten loszukommen. Die Nebenwirkungen sind oft lebensbeschränkend und werden mit zunehmendem Alter lebensbedrohlich. Dazu gehören sexuelle Funktionsstörungen, Lethargie, emotionale Taubheit, ein erhöhtes Risiko für Geburtsfehler bei der Einnahme während der Schwangerschaft sowie bei älteren Menschen Schlaganfälle, Stürze, Krampfanfälle, Herzprobleme und Blutungen nach Operationen. Dies stellt eine Gefahr für die Gesundheitssysteme dar, da Langzeitkonsumenten immer älter werden.

Ärzte sprechen mit ihren Patienten nur selten über das Absetzen der Medikamente, weil sie befürchten, dass dies zu einem Wiederauftreten depressiver Symptome führen könnte. Für viele Menschen ist das Absetzen allerdings ungefährlich.

Selbst bei Langzeitkonsumenten mit mehreren depressiven Episoden in der Vergangenheit zeigte eine kürzlich durchgeführte Studie in Großbritannien, dass 44 % der Patienten die Tabletten problemlos absetzen konnten. Bei leichteren Fällen ist die Erfolgsquote wahrscheinlich noch höher.

Zeit, sie zu entwöhnen

Damit sich etwas ändert, sind mehrere Dinge erforderlich. Die Ärzte brauchen Leitlinien, wie sie die Medikamente absetzen können. Krankenversicherungen und die nationalen Gesundheitsdienste sollten damit beginnen, die Abgabe von Arzneimitteln zu finanzieren, die denjenigen helfen, die aufhören wollen, aber langsam reduzieren müssen, um schwere Entzugserscheinungen zu vermeiden. Dazu gehören flüssige Präparate, sogenannte Tapering Strips, die Tabletten mit immer geringerer Wirkstoffkonzentration enthalten, oder die Dienste von Spezial-Apotheken, die maßgeschneiderte Dosen herstellen. In den Niederlanden ist es 70 % der Menschen, die Tapering-Strips verwenden, gelungen, erfolgreich aufzuhören.

All dies dürfte teurer sein als das heutige Auffrischen von Rezepten. Aber bei so vielen Menschen, die diese Medikamente einnehmen, werden sich die Kosten für die Nebenwirkungen bald auftürmen. Hinzu kommt das Leiden von Millionen von Menschen, die durch nutzlose Verschreibungen um ihre Lebensfreude gebracht wurden.