Essstörungen neu denken: Ein Einblick in den inneren Kampf um Selbstwert
28.12.2024 | Lesezeit: 4 min
Essstörungen wie Anorexia nervosa sind weit verbreitet, doch wir verstehen sie oft nur oberflächlich. Ein aktueller Forschungsartikel von Johanna Lakin und David Murphy lädt dazu ein, einen neuen Blick auf diese komplexe Thematik zu werfen. Statt sich auf die Symptome zu konzentrieren, untersuchen die Autoren die emotionalen und sozialen Ursachen von Essstörungen aus der personzentrierten Perspektive. Dieser Ansatz rückt den Menschen hinter dem Verhalten in den Fokus – und offenbart überraschende Einsichten.
Was treibt Essstörungen an? Der Blick hinter die Fassade
Warum hungern Menschen, obwohl sie wissen, dass es ihnen schadet? Die gängige Erklärung ist oft, dass es um ein verzerrtes Körperbild oder gesellschaftlichen Druck geht. Doch Lakin und Murphy zeigen, dass Essstörungen viel tiefer gehen: Sie sind Ausdruck innerer Konflikte und unerfüllter emotionaler Bedürfnisse.
In ihrer qualitativen Studie interviewten die Forscher vier Frauen, die mit Anorexia nervosa diagnostiziert wurden. Die Teilnehmerinnen berichteten offen von ihren Erfahrungen, Ängsten und Kämpfen. Dabei wurden vier zentrale Themen deutlich, die einen neuen Zugang zu Essstörungen ermöglichen.
1. Bedingungen der Wertschätzung: Wenn Anerkennung alles bedeutet
Alle Teilnehmerinnen beschrieben, wie ihr Bedürfnis nach positiver Anerkennung von klein auf ihr Verhalten geprägt hat. Oft war es die Anerkennung weiblicher Bezugspersonen – Mütter, Lehrerinnen oder Freundinnen –, die ihre Selbstwahrnehmung bestimmte.
Eine Frau erzählte: „Ich war immer das ‚Vorzeigekind‘. Gute Noten, gutes Benehmen – ich wollte perfekt sein, damit alle stolz auf mich sind.“
Doch diese Suche nach Anerkennung hatte ihren Preis. Statt sich selbst treu zu bleiben, passten die Frauen ihr Verhalten den Erwartungen anderer an. Sie entwickelten ein Selbstbild, das nicht mehr mit ihren eigenen Bedürfnissen übereinstimmte – ein Zustand, den die personzentrierte Theorie als „Inkongruenz“ beschreibt.
Besonders deutlich wurde das in Situationen, in denen Gewicht und Aussehen eine Rolle spielten. Eine Teilnehmerin berichtete: „Ich habe gelernt, dass es nicht okay ist, Kurven zu haben. Meine Mutter hat immer versucht, ihr eigenes Gewicht zu verstecken, und ich habe das übernommen.“
2. Die Rolle der Scham: Ein lähmendes Gefühl
Ein weiteres zentrales Thema war die Scham. Alle Teilnehmerinnen beschrieben sie als eine konstante Begleiterin ihres Lebens. Scham ist nicht einfach nur ein unangenehmes Gefühl – sie greift tief in die Identität ein und beeinflusst, wie Menschen sich selbst wahrnehmen.
Eine Frau fasste es so zusammen: „Es ist, als ob ich nackt durch die Straßen laufen würde – so unangenehm fühlt es sich an, wenn ich die Regeln nicht befolge.“
Die Betroffenen versuchten, diese intensive emotionale Spannung durch Essensverhalten zu kontrollieren. Hungern oder exzessiver Sport wurden zu einem Ventil, um die Scham zumindest kurzfristig zu lindern. Doch die Erleichterung war immer nur von kurzer Dauer, und der Kreislauf begann von neuem.
3. Der innere Kritiker: Wenn die eigene Stimme zum Gegner wird
Eine der eindringlichsten Erkenntnisse der Studie ist die Rolle des inneren Kritikers. Die Teilnehmerinnen beschrieben eine kritische innere Stimme, die sie unaufhörlich antreibt:
„Du bist nicht gut genug.“
„Du musst härter arbeiten.“
„Wenn du nachgibst, bist du schwach.“
Diese Stimme ist kein Fremdkörper, sondern ein Teil von ihnen selbst – entstanden durch die introjizierten Erwartungen ihrer Umwelt. Eine Frau beschrieb es so: „Es ist, als hätte ich einen Teufel auf der Schulter. Es fühlt sich wie ich an, aber gleichzeitig auch nicht.“
Der innere Kritiker ist dabei nicht nur destruktiv. Er dient auch als Schutzmechanismus, der Betroffene vor noch größeren emotionalen Schmerzen bewahren soll – ein paradoxes, aber zutiefst menschliches Verhalten.
4. Der Wunsch nach Kontrolle und Anerkennung
Ein weiterer zentraler Punkt war der Wunsch, durch Essensverhalten Kontrolle über das eigene Leben zu gewinnen. Viele Frauen fühlten, dass dies ihre einzige Möglichkeit war, in einem chaotischen Umfeld Stabilität zu schaffen.
Eine Teilnehmerin sagte: „Als ich in der Klinik war, hatte ich keine Kontrolle mehr über mein Leben. Mein Essverhalten war das Einzige, worüber ich selbst bestimmen konnte.“
Gleichzeitig war das Verhalten oft ein Mittel, um eine Botschaft zu senden. Eine Frau erklärte: „Es war, als wollte ich beweisen, wie ernst es mir ist – als wollte ich sagen: ‚Seht her, ich kämpfe.‘“
Ein neuer Blick auf Essstörungen
Die Studie von Lakin und Murphy fordert uns auf, Essstörungen anders zu betrachten: nicht als „Störung“, sondern als Ausdruck tiefer emotionaler Konflikte. Statt nur die Symptome zu bekämpfen, sollten wir versuchen zu verstehen, warum Menschen solche Verhaltensweisen entwickeln.
Therapeutisch bedeutet das, einen Raum zu schaffen, in dem Betroffene ihre Erfahrungen und Gefühle erforschen können – ohne Urteil, aber mit Empathie und bedingungsloser Wertschätzung. Genau das ist der Kern des personzentrierten Ansatzes.
Wie eine Frau sagte: „Es ging nie nur ums Essen. Es ging darum, irgendwie mit mir selbst klarzukommen.“
Fazit: Verständnis statt Verurteilung
Diese Studie erinnert uns daran, dass hinter Essstörungen oft ein stiller Kampf um Selbstwert und Anerkennung steckt. Sie zeigt, wie wichtig es ist, den Menschen hinter dem Verhalten zu sehen – und ihm mit Empathie, Verständnis und Geduld zu begegnen.
Essensverhalten mag auffällig sein, aber es ist selten das wahre Problem. Vielmehr ist es ein Signal für unerfüllte emotionale Bedürfnisse. Wer genauer hinsieht, kann diesen Menschen helfen, einen neuen Weg zu finden – zurück zu sich selbst.
Hinweis: Dieser Blog basiert auf der Studie “A pilot qualitative study of a person-centered approach to eating distress in women” von Johanna Lakin und David Murphy (2024).