Eine neue Studie zeigt: Personzentrierte Therapeuten arbeiten am besten

09.09.2024 | Lesezeit: 7 min

Was brauchen Therapeuten, um gut arbeiten zu können? Was sind typische Erfahrungen, die sie täglich machen? Und welche Faktoren beeinflussen die Arbeit mit ihren Klienten? Eine neue Studie geht diesen Fragen auf den Grund und findet heraus: Therapeuten mit personzentriertem Ansatz arbeiten deutlich besser als ihre Kollegen.

Die menschliche Psyche als Teil eines Ökosystems

Die Psyche des Menschen ist eine Welt für sich. Diese besteht jedoch nicht losgelöst von äußeren Einflüssen: Wie eine Pflanze in einem Garten ist sie von einem komplexen Ökosystem abhängig, das sie umgibt. Wenn Menschen mit psychischen Problemen bei einer Therapeutin Hilfe suchen, dann oft deshalb, weil das empfindliche Gleichgewicht ihres Ökosystems gestört ist. Die Aufgabe der Therapeutin besteht darin, ihren Klienten darin zu unterstützen, dieses Gleichgewicht wiederzufinden.

Es liegt auf der Hand, dass diese Arbeit viel Fingerspitzengefühl erfordert. Therapeuten müssen ein tiefes Verständnis für die Welt eines Menschen entwickeln, der sich ihnen anvertraut. Was dabei allerdings oft übersehen wird: Auch Therapeuten brauchen ein funktionierendes Ökosystem, aus dem sie selbst Kraft schöpfen.

Doch welche Faktoren braucht es dafür genau? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit Therapeuten ihre Arbeit gut machen können? Was muss bei ihnen selbst heil sein, um andere heilen zu können?

Die Studie: Wie erleben Psychotherapeuten ihre Arbeit?

In einer neuen Langzeitstudie der Chicago University gehen Forscher diesen Fragen auf den Grund. Ihr Ziel ist herauszufinden, wie Therapeuten ihre Arbeit erleben und welche Faktoren dafür verantwortlich sind, dass einige von ihnen ihren Berufsalltag genießen und andere sehr darunter leiden.

Für die Studie sprachen die Forscher mit über 450 Therapeuten aus verschiedenen europäischen Ländern, die sich in Aus- oder Weiterbildung befinden. Unter den Befragten waren Therapeuten aller Fachrichtungen zu etwa gleichen Anteilen vertreten. Etwa ein Drittel der Befragten gab an, nach dem personzentrierten Ansatz zu arbeiten bzw. von ihm beeinflusst zu sein.

Bereicherung oder Belastung? Healing Involvement und Stressful Involvement von Psychotherapeuten

Um messen und vergleichen zu können, wie Therapeuten ihre eigene Arbeit empfinden, verwenden die Forscher in der Studie die Begriffe Healing Involvement und Stressful Involvement.

Healing Involvement erleben Therapeuten, wenn sie ihrer Arbeit gerne nachgehen: Sie fühlen sich von ihr bereichert und ziehen Kraft aus dem Kontakt mit ihren Klienten. Auch mit schwierigen Situationen können sie gut umgehen, sie fühlen sich in ihrer Rolle sicher und wenn sie doch einmal nicht weiterkommen, wissen sie, wie sie sich Hilfe holen können.

Stressful Involvement bezeichnet das genaue Gegenteil: wenn Therapeuten sich von ihrer Arbeit belastet fühlen und die negativen Erfahrungen überwiegen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn es Therapeuten schwerfällt, eine Verbindung zu ihren Klienten aufzubauen, oder sie die Arbeitsorganisation als sehr stressig empfinden.

So nehmen Therapeuten ihren Alltag wahr

Die Kombination der beiden Erfahrungen Healing Involvement und Stressful Involvement sagt viel über das Ökosystem von Therapeuten aus.

Wenn Therapeuten viel Healing Involvement (HI) und wenig bis gar kein Stressful Involvement (SI) erfahren, erleben sie einen sehr erfüllenden Arbeitsalltag. In ihrem Ökosystem arbeiten alle Teile harmonisch miteinander: Sie ziehen aus ihrer Arbeit vor allem Freude und Kraft, und geben dies auch an ihre Klienten weiter.

Andere Therapeuten empfinden ihre Arbeit zwar ebenfalls als sehr bereichernd, kämpfen aber gleichzeitig mit vielen negativen Aspekten: Das kann beispielswiese an einer stressigen Arbeitsorganisation liegen oder an privaten Problemen, die sie auch während der Arbeit belasten. Das Ökosystem dieser Therapeuten ist an sich in Ordnung, ist aber durch die negativen Einflüsse wie von Unkraut bedroht: Sie erleben ihren Arbeitsalltag als herausfordernd (viel HI, viel SI).

Am stärksten belastet sind Therapeuten, deren Arbeit ihnen wenige bis keine positiven Erfahrungen bringt, während sie gleichzeitig unter negativen Einflüssen leiden (kaum HI, hohes Maß an SI): Sie brauchen eine grundsätzlich neue Umgebung, um wieder gut arbeiten zu können. Demgegenüber sind Therapeuten, die weder Positives noch Negatives aus ihrer Arbeit ziehen, in ihren Berufsalltag emotional kaum involviert, sie bleiben ihren Erfahrungen gegenüber gleichgültig (wenig HI, wenig SI). Ihr Arbeitsalltag gleicht einem verwahrlosten Garten, der für Besucher zwar nicht unbedingt gefährlich ist, aber eben auch keine Früchte hervorbringt.

Es liegt nahe zu vermuten, dass diejenigen Therapeuten, die ihre Arbeit als deutlich positiv und erfüllend empfinden, auch gegenüber ihren Klienten am aufmerksamsten und hilfreichsten auftreten können. Die Studienergebnisse zeigen jedoch, dass nur rund die Hälfte der befragten Therapeuten ihre Arbeit auf diese Weise empfindet. Die andere Hälfte erlebt ihren Arbeitsalltag als herausfordernd, belastend oder gleichgültig.

Woran aber liegt es, dass Therapeuten ihre Arbeit auf so unterschiedliche Weise wahrnehmen?

Diese Faktoren beeinflussen die therapeutische Arbeit

Die Gründe, warum Therapeuten ihre Arbeit auf eine bestimmte Weise erleben, liegen laut Studie nicht so sehr in der eigentlichen Arbeit begründet, sondern in den vielen Facetten rund um die Arbeit: Die Art und Weise, wie die Arbeit organisiert ist, wie zufrieden die Therapeuten allgemein mit ihrem Leben sind und ob sie in ihrem Alltag kompetent unterstützt werden – all das wirkt sich deutlich darauf aus, wie effektiv Therapeuten ihre Arbeit ausüben können.

So konnte die Studie zeigen: Therapeuten, die mit ihrem Leben allgemein zufriedener sind, zeigen sich auch im Behandlungszimmer als kompetenter. Therapeuten, die sich ihre Zeit frei einteilen und darüber bestimmen können, welche Klienten sie annehmen, erleben ihren Berufsalltag als erfüllender. Und jene, denen ihre Supervision wirklich weiterhilft (was durchaus nicht selbstverständlich ist, wie die Studie zeigt), bewegen sich in ihrer Arbeit sicherer.

Dahingegen kämpfen Therapeuten, die selbst unter einem unsicheren oder ängstlichen Bindungsstil leiden, stärker mit Selbstzweifeln im Umgang mit ihren Klienten. Und für Therapeuten, die über kein kollegiales Netzwerk verfügen, ist es schwerer, mit Herausforderungen umzugehen.

Diese Erkenntnisse sind zunächst wenig überraschend: Die Faktoren, die sich auch in anderen Lebensbereichen als hilfreich erweisen – eine gefestigte Persönlichkeit, tragfähige Beziehungen, genügend Freiraum in der Alltagsgestaltung und die Möglichkeit zur persönlichen Weiterentwicklung –, erweisen sich auch im Berufsalltag von Therapeuten als nützlich.

Ein Faktor sticht bei der Untersuchung jedoch heraus: Therapeuten, die nach dem personzentriertem Ansatz arbeiten, erleben deutlich mehr Healing Involvement als ihre Kollegen. Wie kommt das?

Wie wirkt sich die Fachrichtung auf die Arbeit von Psychotherapeuten aus?

Auf den ersten Blick macht es in der Auswertung der Studie kaum einen Unterschied für die Qualität der Arbeit, welcher Fachrichtung die befragten Therapeuten angehören: Ob verhaltenstherapeutischer, psychoanalytischer oder systemischer Ansatz – keiner von ihnen kann mit einem besonders hohen Maß an Healing Involvement oder Stressful Involvement in Zusammenhang gebracht werden.

Nur eine Fachrichtung erzielt in der Studie überdurchschnittliche Ergebnisse: die humanistische, personzentrierte Psychotherapie. Die Untersuchungsergebnisse zeigen: Therapeuten, die nach dem personzentrierten Ansatz arbeiten, weisen deutlich mehr Healing Involvement auf als jede andere Fachrichtung.

Das bedeutet: Therapeuten mit personzentrierter Haltung erleben ihre Arbeit als deutlich bereichernder als die Kollegen aller anderen Fachrichtungen.

Dabei spielt es keine Rolle, ob die personzentrierte Haltung die einzige Orientierung darstellt, nach der ein Therapeut praktiziert. Auch bei einer Mischung aus verschiedenen theoretischen Ansätzen weisen diejenigen Therapeuten mehr Healing Involvement auf, die den personzentrierten Ansatz in ihre Arbeit integrieren.

Der positive Einfluss der personzentrierten Haltung auf die psychotherapeutische Arbeit ist in der Studie so herausragend, dass die Autoren empfehlen, bei Weiterbildungen humanistische Ansätze zu integrieren. Auf diese Weise soll das Wohlbefinden von Therapeuten aller Fachrichtungen unterstützt werden.

Was aber macht diesen Ansatz so besonders?

Die Grundpfeiler der personzentrierten Psychotherapie

Der personzentrierte Ansatz ruht auf drei Grundpfeilern: Empathie, Authentizität und Wertschätzung. Sie sind für die Fachrichtung wesentlich und unterscheiden den Ansatz von anderen therapeutischen Richtungen. Diese drei Merkmale prägen den Ansatz aber nicht nur theoretisch.

Im Rahmen der Ausbildung durchlaufen personzentrierte Therapeuten eine intensive Phase der Selbsterfahrung, bei der es darum geht, diese drei Grundpfeiler in die Praxis zu übersetzen. Personzentrierte Therapeuten lernen und erfahren intensiv, was es heißt, sich für die Welt eines anderen Menschen wirklich zu interessieren (Empathie) und gleichzeitig als eigenständige Person anwesend zu sein (Authentizität), die jedoch ihr Gegenüber nicht beurteilt oder verurteilt (Wertschätzung).

Diese Grundsätze tagtäglich zu leben, fordert von den Therapeuten dieser Fachrichtung ein hohes Maß an Achtsamkeit und Selbstreflexion. In der Studie mutmaßen die Autoren, dass genau diese verinnerlichte Grundhaltung dafür sorgt, dass personzentrierte Therapeuten einen derart hohen Anteil an Healing Involvement erleben.

Sich der eigenen Empfindungen bewusst sein: Achtsamkeit und Kongruenz bei Therapeuten

Eine weitere Besonderheit der personzentrierten Haltung ist, dass Therapeuten sich in besonderem Maß als ganze Person in ihre Arbeit einbringen. Sie treten während der Therapie nicht als Funktion auf, sondern als Menschen, die eigene Empfindungen haben und diese auch äußern dürfen. Auf diese Weise können Therapeuten auch über unangenehme Erfahrungen in ihrer Arbeit sprechen, statt sie zu ignorieren und wegzudrücken, und sie dadurch leichter lösen.

Es gehört damit zum Ziel von personzentrierten Therapeuten, in ihrer Arbeit stets kongruent zu handeln: Das bedeutet, dass die inneren Empfindungen mit dem, was sie nach außen zeigen, übereinstimmen. Wenn sich Menschen so zeigen und erleben dürfen, wie sie sind, erleben sie sich als authentisch – und sind im Allgemeinen zufriedener.

Diese Haltung strahlt aus: Therapeuten, die mit sich selbst im Reinen sind, prägen das Klima gegenüber ihren Klienten entscheidend. Sie schaffen allein durch ihre Anwesenheit eine Atmosphäre, in denen ihr Gegenüber aufatmen und sich entfalten kann – ein Mikroklima, wenn man so will, in dem Klienten sich erholen und zu neuen Kräften kommen können.

Autonomie und Beziehung auf Augenhöhe: Nicht nur für Klienten heilsam

Aus den Forschungsergebnissen lassen sich noch weitere Schlussfolgerungen dafür ableiten, warum die personzentrierte Haltung so gute Ergebnisse erzielt.

So zeigt die Studie, dass Therapeuten die selbstbestimmte Arbeit sehr wichtig ist. Die Sitzungen selbst zu gestalten und die Arbeit frei einzuteilen, trägt dazu bei, dass Therapeuten aller Fachrichtungen Healing Involvement erleben. Es ist denkbar, dass der Arbeitsstil des personzentrierten Ansatzes genau das fördert. Denn die personzentrierte Haltung arbeitet nicht mit Methoden im engeren Sinne. Ihr geht es um den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung.

Damit diese Beziehung entstehen kann, müssen Therapeuten und Klienten einander auf Augenhöhe begegnen. Therapeuten mit personzentrierter Haltung treten darum nicht als Experten auf, die das Problem ihrer Klienten lösen müssen, sondern lassen sich als Person ganz auf die Lebenswelt ihrer Klienten ein: Sie verstehen sich nicht als Gärtner, die gekommen sind, um die Hecken zu schneiden und die Blattläuse zu entfernen, sondern werden für eine Weile Teil des Ökosystems ihrer Klienten.

Es liegt nahe, dass Therapeuten, die diese Haltung zum Kern ihrer Arbeit gemacht haben, weniger Überdruss und Langeweile bei ihrer Arbeit empfinden. Sie sind gegenüber ihren Klienten als ganze Menschen gefordert und können sich nicht auf routinierte Abläufe oder die sture Anwendung von Methoden zurückziehen.

Die Therapie erscheint so nicht so sehr als Behandlung, sondern als gegenseitiger Austausch, bei dem beide etwas voneinander lernen: Wenn diese Beziehung gelingt, tragen beide Seiten – Therapeut und Klient – zu einer gesunden Entwicklung des anderen bei. Auf diese Weise können Therapeuten ihre eigene Arbeit in doppelter Hinsicht als heilend erlebend: für ihre Klienten und für sich selbst.

Fazit

Wie effektiv Therapeuten ihrer Arbeit nachgehen können, hängt von vielen Faktoren ab. Die Studie zeigt: Organisatorische Hürden, private Umstände und hilfreiche oder ausbleibende Unterstützung beeinflussen die Arbeit von Therapeuten sehr. Die überraschende Erkenntnis dabei ist: Auch die Fachrichtung hat einen großen Einfluss darauf, wie gut Therapeuten ihre Arbeit ausüben können.

Therapeuten, die nach dem humanistischen, personzentrierten Ansatz arbeiten, erzielen in der Studie deutlich bessere Ergebnisse als die Kollegen aller anderen Fachrichtungen. Das veranlasst die Forscher zu der Empfehlung, Elemente der personzentrierten Haltung in die allgemeine Aus- und Weiterbildung von Therapeuten zu integrieren, damit alle davon profitieren können. Die Studie ist damit ein wichtiger Hinweis darauf, wie effektiv der personzentrierte Ansatz wirkt – sowohl für Klienten als auch für Therapeuten.


Quelle: Orlinsky et al. „Healing involvement and stressful involvement experienced by psychotherapy trainees: Patterns, correlates and perceived development“, Counselling and Psychotherapy Research, 2024