Sexuelle Probleme können die Lebensqualität ruinieren. Dabei gibt es oft einfache Lösungen
06.09.2023 | Lesezeit: 3 min
Depressiv oder ängstlich zu sein, bedeutete vor einer Generation meist im Stillen zu leiden. Die Stigmatisierung führte dazu, dass nur wenige Menschen darüber reden wollten. Die Ärzte drückten ein Auge zu. Die meisten betrachteten psychische Erkrankungen als bedauerlich, aber nicht als etwas, das die körperliche Gesundheit des Patienten nun stark beeinträchtigte. Heutzutage ist das Stigma deutlich geringer geworden, wenn auch nicht ganz verschwunden. Durch eine frühzeitige Behandlung werden die Probleme oft schon am Anfang behoben.
Ein ähnlicher Wandel steht bei sexuellen Problemen an, die unter der gleichen Decke von Tabu und Peinlichkeit liegen wie einst die psychische Gesundheit. Jeder fünfte Mann in Amerika und Europa leidet irgendwann in seinem Leben an Erektionsstörungen; die Hälfte der britischen Frauen gab an, im letzten Jahr ein sexuelles Problem gehabt zu haben, einschließlich Schmerzen beim Sex oder Schwierigkeiten, einen Orgasmus zu erreichen. Schlichte Lustlosigkeit ist weit verbreitet, vor allem bei Frauen.
Sind das alles Trivialitäten? Ein Thema, das am besten unerwähnt bleibt? Nein. Sexuelle Probleme können Vorboten anderer Krankheiten sein, wie z. B. Diabetes. Erektile Dysfunktion ist ebenso wie Rauchen und eine familiäre Vorbelastung mit Herzkrankheiten ein Vorbote von Herzproblemen. Ärzte, die danach fragen, können eine frühzeitige Diagnose stellen und eine präventive Herzbehandlung anbieten.
Man geht davon aus, dass sexuelle Probleme allgemein zu einem Fünftel bis zur Hälfte aller Scheidungen beitragen; eine Verringerung dieser Zahl würde viele Erwachsene und Kinder vor Elend und Verarmung bewahren. Erektionsprobleme sind sowohl eine Ursache als auch eine Folge von Angstzuständen, die die Bewältigung des Lebens erschweren können. Die Produktivität am Arbeitsplatz ist bei Männern mit solchen Problemen doppelt so hoch wie bei Männern ohne diese Probleme.
Sexuelle Funktionsstörungen können leicht und kostengünstig bekämpft werden. Ein einfacher Erfolg wäre es, die Art und Weise zu ändern, wie Kinder über Sex lernen. Anstatt sich nur darauf zu konzentrieren, die Schattenseiten zu besprechen, also z.B. Krankheiten oder ungewollte Schwangerschaften zu vermeiden, könnten Lehrer Diskussionen anregen zum Thema Lust und wie man mit einem Partner darüber spricht, wie man eine freiwillige Zustimmung kommuniziert und versteht. Sexuelle Probleme treten häufig in der Pubertät auf und werden durch die allgemeine Unbeholfenheit von Teenagern gegenüber dem anderen Geschlecht (oder auch demselben) noch verschlimmert. Bringen Sie ihnen also auch diese Themen bei, und vergessen Sie das Gekicher im Hintergrund!
Kritiker mögen einwenden, dass Sex in der modernen Kultur allgegenwärtig ist und das Letzte, was man braucht, ist mehr davon. Aber das geht an der Sache vorbei. Der Sex in Film- und Fernsehspielen, ganz zu schweigen von Pornografie, hat kaum etwas mit dem wirklichen Leben zu tun. Der Versuch, von Hollywood etwas über Sex zu lernen, ist so, als würde man bei James Bond nach Tipps suchen für eine Karriere als britischer Beamter. Besser ist es, Teenager auf realistische Quellen zu verweisen, wie pädagogische Websites, die Antworten auf alle möglichen Nischenfragen geben, die junge Menschen auf ihrem Weg durch sexuelle Beziehungen plagen.
Noch ehrgeiziger wäre es, sexuelle Probleme zu einem zentralen Bestandteil der medizinischen Ausbildung zu machen. Erst dann werden Ärzte beginnen, sie routinemäßig zu besprechen – so wie sie es mit Furunkeln, Sport, Herzkrankheiten und anderen gesundheitsbezogenen Themen tun. Viel Leid kann gelindert werden, wenn man die Menschen einfach offen darüber informiert, was mit ihnen geschieht und warum. Das und ein paar Therapiesitzungen, einige Beckenmuskelübungen oder Vorschläge für einfache Änderungen im Lebensstil sind oft alles, was die Patienten brauchen. Solche Dinge sind jetzt in Apps verpackt, von denen einige von den medizinischen Aufsichtsbehörden zugelassen wurden.
Auch Wissenschaftler sollten ihre Hemmungen ablegen. Es ist schwer, Probleme zu lösen, ohne sie vorher zu verstehen. Forschungsprojekte werden oft blockiert, weil die Ausschussmitglieder das Thema unangenehm finden. Und für die Puritaner da draußen, die bezweifeln, dass bloßes Vergnügen ein ausreichender Grund ist, um Dinge zu ändern, sei angemerkt, dass eine bessere Erforschung von Sex wahrscheinlich die öffentliche Gesundheit verbessern wird. Studien haben ergeben, dass die Menschen mehr Kondome benutzen, wenn die Diskussion über die Lust Teil der HIV-Präventionsprogramme ist.
Sex ist eine der größten Freuden im Leben eines Menschen. Im besten Fall ist er eine Quelle der Ekstase und ein gemeinsamer Ausdruck von dauerhafter Zuneigung. Dass so viele Menschen ihn dennoch als schmerzhaft oder enttäuschend empfinden, ist eine Tragödie. Für einen großen Teil von ihnen lässt er sich jedoch in etwas viel Schöneres verwandeln. Ein offenerer Umgang mit Sex ist einer der einfachsten Wege zu mehr Glück und Gesundheit. Warum es also nicht versuchen?
Dieser Beitrag beruht auf einem Artikel der britischen Zeitschrift “The Economist”, der im Dezember 2022 erschienen ist.