Therapie-Erfahrungen von Männern, die sexuellen Missbrauch in der Kindheit erlebt haben
03.03.2023 | Lesezeit: 14 min
Diese Studie wurde im englischen Originaltext in der Zeitschrift “Counselling and Psychotherapy Research” veröffentlicht, und zwar in der Ausgabe 2023/1. Die Studie wurde durchgeführt von Laura Viliardos und Neil Murphy (School of Health and Society, University of Salford, Salford, UK) sowie Sue McAndrew (School of Nursing Midwifery and Social Work, University of Salford, Manchester, UK). Den Originaltext habe ich hier übersetzt, gekürzt und geglättet, so dass er (hoffentlich) auch für psychotherapeutische Laien gut verständlich ist.
Zusammenfassung
Weltweite Schätzungen gehen davon aus, dass 5 bis 10 % der Männer von sexuellem Missbrauch in der Kindheit (SMK) berichten. Es wird jedoch viel zu wenig über SMK bei Männern berichtet, da sie selbst oft zögern, ihre Erfahrungen offenzulegen: aufgrund von Verletzlichkeit, Stigmatisierung, homophoben Reaktionen und der Angst vor dem Verlust ihrer Männlichkeit. Der Mangel an Forschungs- und Dienstleistungsangeboten, die auf Männer ausgerichtet sind, lässt vermuten, dass männliche Betroffene von SMK ins Abseits gedrängt werden.
Die qualitative Studie, um die es hier geht, hat sich auf vier erwachsene Männer konzentriert, die von SMK betroffen sind. Ziel war es herauszufinden, wie Betroffene die Beratungs- und Unterstützungsangebote für SMK durch freie und ehrenamtliche Organisationen erlebt haben.
Die persönlichen Interviews wurden aufgezeichnet und wortwörtlich aufgeschrieben. Die Analyse erfolgte dann in zwei Phasen: Zunächst wurde jedes Interview als Ganzes analysiert; anschließend wurde eine übergreifende Analyse über alle Interviews durchgeführt, um gemeinsame Themen und Abweichungen zu ermitteln. In diesem Beitrag werden die Ergebnisse der zweiten Phase der Analyse vorgestellt. Es wurden drei Themen identifiziert in Bezug auf die Erfahrungen der männlichen Betroffenen mit spezialisierten Beratungsdiensten: „Vertrau mir, ich bin ein Arzt“, „Vertrau mir, ich bin ein Therapeut“ und „Therapeut oder Mutter?“
Dies ist die erste akademische Studie in Großbritannien, die spezifisch untersucht hat, wie Männer, die von SMK betroffen sind, entsprechende Beratungsangebote dort wahrnehmen.
Hintergrund
Sexueller Missbrauch in der Kindheit (SMK) ist ein riesiges Problem im Vereinigten Königreich und international. Zu bestimmen, wie verbreitet SMK ist, stellt aufgrund unterschiedlicher Definitionen und Methoden eine Herausforderung dar. In den jüngsten Daten aus der Kriminalitätserhebung für England und Wales haben etwa 7,5 % der Erwachsenen zwischen 18 und 74 Jahren angegeben, vor dem Alter von 16 Jahren sexuellen Missbrauch erlebt zu haben. Frühere Untersuchungen ergaben, dass eines von drei Kindern, die von einem Erwachsenen sexuell missbraucht wurden, dies damals niemandem erzählte.
Während Statistiken darauf hindeuten, dass Frauen mit größerer Wahrscheinlichkeit von SMK betroffen sind als Männer, ergab eine von der britischen National Society for Prevention of Cruelty to Children (NSPCC) in Auftrag gegebene Studie, dass 11 % der Männer als Kind sexuell missbraucht worden sind. Weltweit berichten zwischen 5 % und 10 % der Männer, als Kind Opfer von sexuellem Missbrauch gewesen zu sein. Es besteht eine wachsende Einigkeit unter Forschern, dass etwa einer von sechs Männern vor dem 18. Lebensjahr sexuellen Missbrauch erlebt hat. Trotz dieser relativ hohen Schätzungen des sexuellen Missbrauchs unter Jungen ist es wahrscheinlich, dass die tatsächlichen Zahlen aufgrund der Dunkelziffer höher sind.
Sexueller Missbrauch in der Kindheit (SMK) wird mit einer Reihe von langfristigen negativen Auswirkungen in Verbindung gebracht, welche die Entwicklung von Kindern nachhaltig beeinträchtigen. Die langfristigen Auswirkungen reichen bis ins Erwachsenenalter und können sich auf alle Lebensbereiche auswirken, wobei sie sich häufig als psychische Probleme manifestieren. Zu diesen Problemen gehören Depressionen, Angstzustände, dissoziative Störungen, Psychosen und Suizidalität.
Die Erfahrung von SMK bei Männern kann auch zur Verwirrung in Bezug auf die sexuelle Orientierung führen, da der Missbrauch gegen geschlechtsspezifische Erwartungen verstößt. Darüber hinaus können Männer, die von anderen Männern missbraucht wurden, unter verstärkten Schamgefühlen und verinnerlichter Homophobie leiden, so dass sie die Offenlegung oft jahrzehntelang hinauszögern. Sie befürchten, dass ihnen nicht geglaubt wird und sie als weniger männlich gelten. In der Folge nehmen Männer, die SMK erlebt haben, häufig hyper-maskuline Verhaltensweisen an wie Wut und Aggression, was dazu führen kann, dass männliche Betroffene eher mit dem Strafvollzug in Kontakt kommen als mit Gesundheitsdiensten.
Männliche Betroffene von SMK werden bei der Betreuung und in der Forschung tendenziell übersehen, da sich die Forschung häufig auf die langfristigen Auswirkungen von SMK bei Frauen konzentriert. Infolgedessen werden männliche Betroffene weiterhin an den Rand gedrängt und stellen eine unzureichend erforschte Gruppe dar, die wahrscheinlich von langfristigen psychischen Problemen bedroht ist.
Obwohl es nur wenige Forschungsarbeiten über männliche Betroffene von SMK gibt, deuten die vorhandenen Untersuchungen darauf hin, dass die Erfahrungen von Männern tendenziell schwerwiegend sind. Das könnte zum einen beeinflusst sein durch das frühe Alter, in dem der Missbrauch beginnt; zum anderen durch die lange Dauer des Missbrauchs und drittens durch die invasiven Handlungen, die Jungen häufig erleben, wie z. B. anale Penetration. Es mag auch sein, dass die psychologischen Auswirkungen von SMK für männliche Betroffene komplexer sein können als für weibliche Betroffene: Vor allem aufgrund der gesellschaftlichen Stereotype, der negativen Reaktionen auf die Offenlegung, die Männer häufig erfahren, und aufgrund mangelnder Unterstützung für Männer. Das Ziel dieser Studie war es daher, die Erfahrungen männlicher SMK-Betroffener mit spezialisierten Unterstützungsdiensten zu untersuchen.
Methode
In dieser qualitativen Forschungsstudie wurde ein sog. narrativer Ansatz verwendet, da Erzählungen ein wunderbarer Katalysator sind, durch den menschliche Erfahrungen sinnvoll gemacht werden. Die Forscher sind davon ausgegangen, dass die Verwendung eines narrativen Ansatzes die Teilnehmer dazu ermutigt, ihre Erfahrungen zu artikulieren. Und dass es ihnen auch ermöglicht, den Ereignissen einen Sinn zu geben, die sie zuvor vielleicht nur schwer beschreiben konnten.
Die Verwendung eines narrativen Ansatzes in der Forschung kann an sich schon therapeutisch sein und ähnelt oft der therapeutischen Beziehung. In der Therapie wird ein Klient ja bei der Suche nach dem Problem in seinem Redefluss unterstützt, wobei er oft über Kindheitserfahrungen und Erinnerungen nachdenkt, um einen Zusammenhang zu dem Problem herzustellen. Daher können die Erzählungen auch bei Teilnehmern eines Forschungsprojektes Teil des Heilungsprozesses sein, indem dem Erzähler dabei geholfen wird, seine Erfahrungen zu reflektieren und ihnen einen Sinn zu geben.
Es wurde eine gezielte Stichprobe gezogen, um erwachsene Männer zu rekrutieren, die
- vor dem Alter von 18 Jahren sexuell missbraucht wurden,
- in der Folge die Langzeitfolgen von sexuellem Missbrauch in der Kindheit (SMK) erlebt haben und
- Beratung und/oder therapeutische Unterstützung von den Einrichtungen in Anspruch genommen haben, die zur Rekrutierung der Teilnehmer angesprochen wurden.
Insgesamt erklärten sich vier Männer zur Teilnahme bereit.
Das Sprechen über ein traumatisches Erlebnis hat das Potenzial, eine Person zu re-traumatisieren. Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass das Sprechen über die Erfahrung für eine Person heilend sein kann. Um das Risiko einer Re-Traumatisierung und einer emotionalen Belastung zu verringern, wurden für die Studienteilnehmer ausgewählt, die sich entweder am Ende einer Therapie oder seit längerer Zeit in Therapie befanden und somit Erfahrung damit hatten, die emotionalen Auswirkungen des Missbrauchs zu besprechen.
Ergebnisse
Wenn man die einzelnen Aspekte, die in allen vier Interviews identifiziert wurden, zu gemeinsamen Themen zusammenfasst, ergeben sich vier Themen: „Vertrau mir, ich bin ein Arzt“, „Vertrau mir, ich bin ein Therapeut“, „Therapeut oder Mutter?“ und „Blockieren der Erinnerungen“. Die drei erstgenannten Themen werden in diesem Artikel vorgestellt. Jedem Teilnehmer wurde zum Schutz seiner Anonymität ein Pseudonym gegeben: Tony, David, Paul und Andrew.
Thema 1: “Vertrau mir, ich bin ein Arzt.”
Drei der vier Männer gaben an, dass die Aufmerksamkeit der Medien ein Grund dafür war, sich gegenüber ihrem Arzt zu offenbaren. Sowohl David als auch Paul erwähnten in ihren Interviews den Skandal um den sexuellen Missbrauch durch Jimmy Savile. Für Paul führte dies zu einer Verschlechterung seiner psychischen Gesundheit und seiner Fähigkeit, das Leben zu meistern; es veranlasste ihn jedoch auch, seinen Arzt um Hilfe zu bitten:
Dann kam die Sache mit Jimmy Savile, und ich konnte den Deckel nicht mehr aufsetzen. Je mehr es ans Licht kam, desto mehr schmerzte es mich. (Paul)
David sprach über Jimmy Savile im Zusammenhang mit dem Hinauszögern seiner Enthüllung. Er sagte, dass die Leute bis nach Jimmy Saviles Tod gewartet haben, um seine Verbrechen aufzudecken, da dies einfacher sei, wenn man weiß, dass der Täter einem nicht mehr schaden kann. Er betonte das mangelnde Verständnis in der Gesellschaft als Grund dafür, warum Menschen sexuellen Missbrauch in der Kindheit (SMK) erst später im Leben offenlegen. Er sprach sich dafür aus, dass Menschen, die sich melden, um den Missbrauch durch „Superstars“ offenzulegen, „Stärke“ und „Mut“ haben. Diese Bewunderung für andere schien David darin zu beeinflussen, seinen eigenen Missbrauch zu offenbaren.
Andrew deutete ebenfalls an, dass wohl die zunehmende Medienaktivität der Auslöser war, der seinen Arzt dazu veranlasste, ihn direkt zu fragen, ob er missbraucht worden sei:
Es war im Fernsehen, und ich glaube, ich habe etwas erwähnt, und er [Andrews Hausarzt] sagte: „Ist etwas passiert?“, und ich sagte ja (Andrew).
Die Erfahrung von Andrew, Paul und David, dass SMK in den Medien der Auslöser für ihre Offenlegung und Hilfesuche war, deckt sich mit den Erkenntnissen, dass die Inanspruchnahme von spezialisierter therapeutischer SMK-Unterstützung immer dann zunimmt, wenn die Medien Aufmerksamkeit erregen.
Die vier Männer dieser Studie wurden alle zunächst von ihrem Hausarzt an eine spezialisierte Beratung überwiesen. David suchte seine Hausärztin wegen einer nicht genannten Krankheit auf und beschrieb, wie er vor ihr „zusammenbrach“ und ihr mitteilte, dass er sich „depressiv“ fühle und „als Kind sexuell missbraucht“ worden sei. Es war das erste Mal, dass er einer Fachkraft von seinen Kindheitserlebnissen erzählte. Er beschrieb die Offenbarung als Erleichterung und vergleichbar mit einem „Dorn, der im Finger steckt und den man herauszieht“. Davids Hausärztin, die neu für ihn war, versicherte ihm, dass es Hilfe gibt, und setzte sich in seinem Namen mit der Fachberatungsstelle in Verbindung. Er beschrieb dieses Treffen mit seiner neuen Hausärztin als den ersten Schritt, an dem er begann, sich besser zu fühlen.
In ähnlicher Weise war Pauls Hausarzt die einzige Fachkraft, mit der er seine Erfahrungen geteilt hatte. Obwohl Paul seinen Hausarzt als „sehr gut“ beschrieb und als einen, der ihn „in- und auswendig“ kannte, schlug der Hausarzt zunächst Medikamente vor, was Paul entschieden ablehnte, da er glaubte, dass diese „Dinge blockieren“. Nachdem er Medikamente abgelehnt hatte, verwies Pauls Hausarzt ihn ungünstigerweise an eine nicht spezialisierte Beratungsstelle, bevor er ihm das „Rape Crisis Centre“ empfahl. Er wies Paul darauf hin, dass er den Missbrauch möglicherweise bei der Polizei anzeigen müsse, um die lange Warteliste dort zu verkürzen. Während des Forschungsinterviews erklärte Paul ausdrücklich, dass er den Missbrauch wahrscheinlich nicht bei der Polizei angezeigt hätte, wenn er nicht auch den Rat des Hausarztes erhalten hätte, dass der Täter verstorben sei. Vielleicht hat Pauls Hausarzt hier unnötigen Stress verursacht, indem er ihm riet, den Missbrauch bei der Polizei anzuzeigen.
Tonys Hausarzt bot ihm ebenfalls Medikamente an, als er den SMK aufgedeckt hatte, was nach Tonys Aussage seine Wutprobleme verschlimmerte. Tony fand es „peinlich“, mit dem Arzt über seine SMK-Erfahrungen zu sprechen, und er hatte das Gefühl, dass man ihm zunächst nicht glaubte. Tony erklärte, dass der Hausarzt ihm schließlich glaubte, als er begann, seine Geschichte zu erzählen, und ihn dann an eine Fachberatung verwies. Im Gegensatz zu David und Paul äußerte Tony negative Ansichten und Misstrauen gegenüber seinem Hausarzt:
Deshalb gehe ich bei ihm auch nicht ins Detail. Ich traue ihm nicht. (Tony)
Durch die Erfahrungen der Männer in dieser Studie wird deutlich, dass Hausärzte eine wichtige Rolle dabei spielen, Betroffene an die entsprechenden therapeutischen Dienste zu verweisen. Aus den Ausführungen geht jedoch hervor, dass Hausärzte dazu neigen können, in erster Linie Medikamente anzubieten statt Gesprächstherapien. Die Männer in dieser Studie betonten, was für die Verbesserung ihres Wohlbefindens von grundlegender Bedeutung war und ist: 1. eine gute Beziehung zwischen Arzt und Patient; 2. eine einfühlsame Kommunikation; 3. das Angebot, sich Zeit für die Patienten zu nehmen und ihnen zuzuhören; 4. die Tatsache, dass ihnen geglaubt wird, wenn sie sich offenbaren.
Thema 2: “Vertrau mir, ich bin ein Therapeut.”
Rogers, der Begründer der personzentrierten Psychotherapie, nahm an, dass echte Therapieergebnisse erzielt werden, wenn der Therapeut ein positives, förderliches Umfeld bieten kann, das auf drei Bedingungen beruht: 1. Kongruenz oder Authentizität, 2. bedingungslose positive Wertschätzung und 3. Empathie. Drei der Männer beschrieben, dass die Fähigkeiten und Eigenschaften des Therapeuten – Zuhören, Akzeptieren, Verstehen und nicht urteilen – grundlegende Merkmale dafür waren, dass ihre Therapie hilfreich war:
Wenn du mit ihr sprichst, sagt sie zuerst nicht viel, sie hört dir zu. Es ist einfach ruhig um sie herum. (Andrew)
Ein grundlegendes Element der bedingungslosen positiven Wertschätzung ist, dass der Therapeut sein Urteil über den Klienten aussetzt und ihm eine bedingungslose Beziehung anbietet. David erkannte diese Eigenschaft bei seiner Therapeutin:
Ich konnte nicht wirklich sagen, was passiert war, und daher war ich besorgt und auch erleichtert, dass ich endlich mit jemandem reden konnte, der unvoreingenommen ist, der mich in keiner Weise beurteilt. (David)
Diese drei Bedingungen, insbesondere die Authentizität, fördern die Entwicklung von Vertrauen im Beratungsprozess. Das Vertrauen in den Therapeuten wiederum ist die Grundlage für eine effektive Therapie – und war daher auch ein wichtiges Thema für die Männer in dieser Studie. David erzählte, dass er sich frei fühlte, explizite Missbrauchserinnerungen mitzuteilen, ohne Angst haben zu müssen, seinen Therapeuten zu schockieren, da „ein gewisses Maß an Vertrauen vorhanden war.“ Tony deutete mangelndes Vertrauen in seinen Therapeuten an und beschrieb seine Therapie als „nicht sehr hilfreich“. Dies könnte jedoch mit fehlender Kontinuität zusammenhängen, da sein Therapeut viele Auszeiten hatte und die Sitzungen unregelmäßig waren. Tonys zweite Beraterin war offensichtlich effektiver, wie er erklärte:
Dann kam ich zu dieser Therapeutin, zu der ich jetzt gehe. Sie hat etwas erkannt, was der andere nicht erkannt hat. (Tony)
Andrew beschrieb, wie er Angst hatte, seine erste Therapiesitzung nicht durchziehen zu können, aber das vorhandene Vertrauen hielt ihn davon ab, die Sitzungen abzubrechen:
Ich war bereit zu gehen … wegzugehen … aber da war etwas an der Art, wie meine Therapeutin sprach, und das Vertrauen war da. (Andrew)
Insgesamt sprach Andrew über sein mangelndes Vertrauen in eine Vielzahl von Fachleuten und darüber, dass dies ihn daran hinderte, Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Während des Interviews teilte er mit, dass er sich ohne seinen Hausarzt und seine Therapeutin und ohne das Vertrauen, das er in beide hatte, schon vor langer Zeit umgebracht hätte.
Die geschlechtsspezifische Wahl des Therapeuten kann durch bewusste und unbewusste Einflüsse bestimmt werden, z. B. durch die Geschlechterstereotypen des Klienten. Zum Beispiel könnte der Klient eine Therapeutin als fürsorglicher oder einfühlsamer empfinden. Andrew brachte diese Wahrnehmung zum Ausdruck, als er über die Merkmale sprach, die einen weiblichen Therapeuten von einem männlichen Therapeuten unterscheiden:
Es ist anders, wenn man mit einer Frau spricht. Ich weiß es nicht. Ich finde Frauen verständnisvoller und geduldiger. Ich rede mit ihr, und sie hört einfach zu. (Andrew)
Neben geschlechtsspezifischen Entscheidungen, die darauf beruhen, dass der Klient ein bestimmtes Bedürfnis befriedigt, können die geschlechtsspezifischen Präferenzen auch defensiv begründet sein. Um die Auseinandersetzung mit dem schmerzhaften und unangenehmen Material zu vermeiden, könnte ein Klient die Arbeit mit dem Geschlecht vermeiden, das mit seinen belastenden Erfahrungen aus der Vergangenheit in Verbindung gebracht wird. Dies wird durch Tony untermauert, der seine Vorliebe für eine weibliche Therapeutin erklärt und Angst davor hatte, seinen ersten Beratungstermin wahrzunehmen. Denn er ging davon aus, dass ihm ein männlicher Mitarbeiter zugewiesen werden würde – was dazu führen würde, dass er sich mit Bildern seines Missbrauchs auseinandersetzen müsste.
Ich würde nur sein Gesicht sehen. Wenn ich sein Gesicht sehen würde, dann würde alles … alles zu mir zurückkommen. (Tony)
Es gibt nur wenig Literatur, die sich damit beschäftigt, welche Auswirkungen es hat, wenn Klienten ein bestimmtes Geschlecht bei ihrem Therapeuten bevorzugen. Die vier Männer in dieser Studie wählten aktiv eine weibliche Therapeutin und erklärten ausdrücklich, dass sie nicht mit einem männlichen Therapeuten arbeiten könnten. Paul hatte die Wahl zwischen einem Mann und einer Frau; er erklärte, dass er eine weibliche Therapeutin vorzog, da er „Männern nicht traut“. Andrew hatte schon einmal mit einem männlichen Therapeuten gearbeitet, um Symptome einer Zwangsstörung zu behandeln, aber die Therapie war nicht effektiv, da er sich in der Nähe seines Therapeuten unwohl fühlte. Weil dieser männlich war und Andrew von einem Mann missbraucht worden war.
Thema 3: Therapeutin oder Mutter?
Es ist bekanntes und gesichertes Wissen, dass sich die Unterstützung durch Bezugspersonen auf das psychische Wohlbefinden von sexuell missbrauchten Kindern auswirkt. So gibt es Hinweise darauf, dass ein nahes Familienmitglied, das dem Kind glaubt und es unterstützt, die negativen Auswirkungen von SMK verringert. Bei der Analyse der Interviews spielte die Mutter bei allen vier Männern eine wichtige Rolle, und zwar aus unterschiedlichen Gründen: Davids Mutter war mitschuldig an dem sexuellen Missbrauch, den er erlebte, und zeigte ihm während seiner gesamten Kindheit keine Zuneigung. Paul erzählte seiner Mutter von dem sexuellen Missbrauch, doch sie unternahm nichts und fragte ihn stattdessen, ob er auch die Wahrheit sage, was dazu führte, dass er dachte, man glaube ihm nicht. Tony wurde von seiner Mutter getrennt, da sie nicht in der Lage war, sich um ihn zu kümmern. Als Tony Jahre später wieder mit ihr zusammenkam, brachte sie den Täter, der ihn missbraucht hatte, in die Familie ein. Im Gegensatz zu den anderen drei Männern vergötterte und beschützte Andrew seine Mutter.
Aus den Erzählungen der Männer über ihre Kindheit ging hervor, dass sie sich nach einer Mutterfigur sehnten. Es wurde in der Forschung bereits angedeutet, dass die Beziehung zwischen Klient und Therapeut Parallelen zur Mutter-Kind-Beziehung aufweist und der Therapeut als sichere Basis „fungiert“.
Darüber hinaus prägen die Gefühle, die mit einer bestimmten Bezugsperson aus der Vergangenheit verbunden sind, die Erwartungen, die der Klient an den Therapeuten hat. Tony zum Beispiel drückte Wut und Abneigung aus gegenüber seiner früheren Therapeutin, als diese aufgrund persönlicher Umstände ihre Arbeit einstellen musste. Ablehnung und Verlassenheit haben eben das Potenzial, sich in der therapeutischen Beziehung zu wiederholen, wie in diesem Fall gezeigt wurde. Wenn ein Klient in der Vergangenheit von einer Bezugsperson enttäuscht wurde, wird er besonders aufpassen, nicht auch von seinem Therapeuten enttäuscht zu werden. Dies zeigt sich in Pauls Erfahrung mit seinem ersten Therapeuten – und seiner Zurückhaltung, sich erneut an eine andere Beratungsstelle zu wenden, die von seinem Arzt vorgeschlagen wurde.
Fazit
Die Therapeuten der Männer hier waren für die Arbeit mit SMK-Betroffenen gerüstet und verfügten über entsprechende Kenntnisse, was für eine hilfreiche Therapie wichtig schien. Die Teilnehmer berichteten jedoch auch von negativen Erfahrungen mit Fachleuten aus dem Gesundheitswesen und der Psychiatrie in der Vergangenheit; drei der Männer waren jahrelang in allgemeinen, nicht spezialisierten Diensten ein- und ausgegangen. Das Wissen, dass sein Therapeut und auch die Forscher dieser Studie Spezialisten auf diesem Gebiet sind und dass sie von den Missbrauchs-Erzählungen nicht „schockiert“ sein würden, wurde von einem der Männer sowohl in Bezug auf die Therapie als auch in Bezug auf die Studie positiv bewertet. Daher könnte es für Therapeuten, die mit diesem Arbeitsbereich nicht vertraut sind, möglicherweise nützlich sein, einen Handlungsrahmen zu haben, der die wesentlichen Kenntnisse und Fähigkeiten für die Arbeit mit männlichen Betroffenen von SMK aufzeigt. Dies könnte in die therapeutische Ausbildung oder in die berufliche Fortbildung aufgenommen werden.
Die Männer in dieser Studie hatten als Kinder keine Unterstützung und kämpften jahrzehntelang mit den dauerhaften Auswirkungen von SMK. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, von SMK betroffene Jungen frühzeitig zu unterstützen. Fachkräfte im Gesundheitswesen, wie z. B. Hausärzte, sollten umfassende Kenntnisse über geeignete spezialisierte Beratungsstellen haben, an welche sie betroffene Männer verweisen können, und sie müssen Kenntnisse über die Überweisungsverfahren haben.
Da Männer mit vielen Hindernissen konfrontiert sein können oder ihnen der Zugang zu bestimmten Diensten verwehrt wird, die ausschließlich Frauen vorbehalten sind, besteht ein Bedarf an spezialisierten Diensten für Männer. Derzeit gibt es nur wenige davon, in UK zum Beispiel Survivors UK (www.survivorsuk.org) und Survivors Manchester (www.survivorsmanchester.org.uk). Zusätzliche Mittel für diese Dienste und ein breiteres Angebot für Männer könnten dazu beitragen, einige dieser Hindernisse abzubauen.
Diese Studie beschränkte sich auf eine kleine Stichprobe von vier Männern. Dennoch hat diese Studie einen guten Einblick in die Erfahrungen männlicher SMK-Betroffener mit Therapie und Beratung gegeben. Die Rekrutierung war eine Herausforderung, da viele Beratungsstellen nicht auf die Kontaktaufnahme reagierten oder mitteilten, dass sie den Forschern nicht erlauben, Interviews mit ihren aktuellen oder ehemaligen Klienten zu führen, weil die Gefahr einer Retraumatisierung besteht. Obwohl das Sprechen über eine traumatische Erfahrung durchaus das Potenzial hat, eine Person zu re-traumatisieren, wird allgemein anerkannt, dass das Teilen einer Erfahrung auch das Potenzial hat, heilend zu wirken. Darüber hinaus widerspricht die Vorstellung, dass die Teilnahme an der Forschung zu einer Re-Traumatisierung führt, den Forschungserfahrungen: Hier fühlten sich die Teilnehmer durch das Sprechen über schwierige Lebenserfahrungen bestätigt und gestärkt.
Die Forschungsergebnisse machten deutlich, dass die Männer die Inanspruchnahme von Beratung und Therapie aus einer Vielzahl von Gründen hinauszögern, z. B. aus Stigmatisierung oder aus Angst, ihnen könnte nicht geglaubt werden. Die Offenlegung war oft nicht geplant, sondern erfolgte gegenüber einem Angehörigen der Gesundheitsberufe (Hausarzt), der die Möglichkeit hatte, sie an einen Spezialisten zu verweisen. Die Offenlegung wurde wahrscheinlich stark von den (damaligen) Medienberichten über die Sexualstraftaten eines Prominenten beeinflusst.
Entscheidend für die Überzeugung der Männer, dass sie nun besser ihr Trauma bewältigen konnten, waren die therapeutischen Fähigkeiten des Beraters und die Erlaubnis, ihre Geschichte auf ihre eigene Weise zu erzählen. In jedem Fall hatten sich die Männer für eine weibliche Therapeutin entschieden, da sie der Meinung waren, dass sie sich auf eine Frau einlassen konnten und es dann weniger schwierig war, ihre Geschichte zu erzählen, da sie kein Vertrauen in Männer hatten.
Die Verwendung einer narrativen Untersuchung gab den Männern die Möglichkeit, ihre Geschichte auf ihre eigene Weise und in ihrer eigenen Zeit zu erzählen. Es hat den Männern viel Mut abverlangt, ihre Geschichten mitzuteilen, und die Konstruktion ihrer Erfahrungen war manchmal eine emotionale Herausforderung. Ihre Geschichten werden den Therapeuten und Berater hoffentlich helfen, sexuellen Missbrauch in der Kindheit (SMK) bei Klienten zu erkennen, zu erforschen und ihnen zu helfen, zum richtigen Zeitpunkt Unterstützung zu finden.