Warum brechen so viele Menschen ihre Psychotherapie ab?

Warum brechen so viele Menschen ihre Psychotherapie ab?

31.10.2024

Man sagt, das Aufbrechen ist der erste Schritt zur Besserung. Doch für viele Menschen, die eine Psychotherapie beginnen, endet die Reise, bevor sie richtig begonnen hat. Eine neue Studie von McGovern und Kollegen (2024) hat erforscht, was Klienten dazu bewegt, die Segel frühzeitig zu streichen und welche Hinweise schon in den ersten Sitzungen auftreten. Ihre Ergebnisse werfen ein Licht auf die äußeren und oft unerwarteten Einflüsse, die eine Therapie gefährden können.

Die „Distanzfalle“ der Psychotherapie

Eine der überraschendsten Erkenntnisse ist die Rolle der Entfernung zwischen Klient und Praxis. Menschen, die weiter entfernt wohnen, sind häufiger geneigt, ihre Therapie abzubrechen. Vielleicht liegt es daran, dass jeder zusätzliche Kilometer auf der Strecke zum Termin zu einem Symbol wird: für die Anstrengung, die nötig ist, um nicht nur physisch, sondern auch emotional an diesem Ort anzukommen. Es erinnert fast an ein sprichwörtliches Bergsteigen: Je steiler die Strecke, desto verlockender scheint es, sich irgendwann einfach umzudrehen.

Die „Distanzfalle“ könnte ein Hinweis darauf sein, dass die physischen Barrieren eine unterschätzte Rolle im Therapieerfolg spielen. Die Studie zeigt, dass flexible Optionen wie Teletherapie den Zugang zur Behandlung verbessern könnten. So lässt sich der Gipfel vielleicht leichter erklimmen, wenn die Therapie nur einen Bildschirm entfernt ist.

Frühe „Stolpersteine“ und was sie bedeuten

Die zweite Erkenntnis der Studie ist ein regelrechtes Frühwarnsystem: Verpasste Termine in den ersten vier Sitzungen sind ein starker Indikator für das Risiko eines Abbruchs. Für Therapeuten bedeutet das, dass bereits in der Startphase genau hingeschaut werden sollte. Ein verpasster Termin ist wie ein kleines Stolpern – unbedeutend in einem Marathon, aber möglicherweise folgenschwer in den ersten Metern. Dieses frühe Stolpern könnte auf organisatorische Herausforderungen oder auf Unsicherheiten und zögerliche Erwartungen hindeuten.

Therapeuten sind gefragt, diese Signale wahrzunehmen und anzusprechen, bevor aus einem kleinen Stolperer ein ernsthafter Rückzug wird. Es geht darum, gemeinsam mit dem Klienten mögliche Stolpersteine aus dem Weg zu räumen – seien es die schlichte Organisation des Alltags, Ängste vor dem therapeutischen Prozess oder schlichtweg die Frage, ob Therapie der richtige Weg ist.

Wenn äußere Umstände den Takt vorgeben

Für viele ist die Therapie eine Art „Innenreise“, aber die äußeren Umstände spielen dabei eine bedeutende Rolle. Die Studie von McGovern zeigt, dass ein erfolgreicher Therapieverlauf oft davon abhängt, dass die äußeren Umstände stimmig sind und der Zugang nicht durch logistische Hürden erschwert wird. Die Entfernung zur Praxis und die Herausforderungen des Alltags sind Teil der Realität der Klienten und können ein größeres Gewicht haben, als es in der therapeutischen Praxis bisher beachtet wird.

Es stellt sich die Frage, wie Therapeuten und Klienten gemeinsam an einer Lösung arbeiten können, die den Zugang zur Therapie erleichtert. Flexibilität bei den Terminmodalitäten – etwa durch Teletherapie – kann eine Lösung sein. Ebenso könnte die Sensibilisierung für frühe Warnzeichen in den Sitzungen zu mehr Klarheit und einem nachhaltigeren Engagement beitragen.

Was diese Studie für den Alltag bedeutet

Die Studie ist nicht nur ein weiterer Beitrag zur Wissenschaft, sondern ein wertvoller Ratgeber für die Praxis: Sie zeigt, dass nicht nur die inneren Konflikte, sondern auch äußere Barrieren entscheidend sind. Für Klienten bedeutet das, dass es sich lohnen kann, logistische Hindernisse wie Anfahrtswege und Alltagshürden ernst zu nehmen und offen anzusprechen. Denn nicht jede Hürde lässt sich intern überwinden – manchmal ist es der Rahmen, der die Richtung vorgibt.

Und für Therapeuten ist die Studie eine Erinnerung daran, dass Klienten nicht nur „eintauchen“ müssen, sondern dass der Zugang zur Therapie auch „möglich gemacht“ werden sollte.

Fazit: Wenn innere Arbeit auch äußere Unterstützung braucht

Die Erkenntnisse von McGovern und Kollegen zeigen uns, dass die Welt der Psychotherapie ein Balanceakt zwischen Innen und Außen ist. Therapie ist mehr als eine Reise nach innen – sie braucht auch die äußeren Bedingungen, um wirklich wirksam zu sein. Ein verpasster Termin, eine längere Strecke zur Praxis: All das sind Hinweise darauf, dass die äußeren Umstände den Takt der inneren Reise beeinflussen.

Für einen erfolgreichen Therapieprozess lohnt es sich, frühzeitig gemeinsam Lösungen zu entwickeln, die diesen Weg unterstützen. Denn vielleicht ist es genau diese Balance, die den Unterschied macht – zwischen dem Aufbruch und dem tatsächlichen Ankommen.

Quelle:
McGovern, C., Athey, A., Beale, E. E., Overholser, J. C., Gomez, S. H., & Silva, C. (2024). Who will stay and who will go? Identifying risk factors for psychotherapy dropout. Counselling and Psychotherapy Research, 24(4), 1432–1441.