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Wenn das eigene Leben gegen einen trinkt

02.09.2025 | Lesezeit 1 min

Die doppelte Falle

Alkoholkonsumstörungen sind mehr als ein Übermaß an Gläsern. Sie entstehen aus inneren Widersprüchen: zwischen dem Bild, das jemand von sich hat, und den Erfahrungen, die diesem Bild widersprechen. Wer stark wirken möchte, spürt die Scham, wenn die Kontrolle verloren geht. Wer für andere da sein will, erträgt kaum, dass Konflikte und Verluste gerade durch das Trinken wachsen.

Carl Rogers nannte diese Spannungen Inkongruenzen. Manche von ihnen sind alt – frühe Verletzungen, Bedingungen der Wertschätzung, Traumata. Andere entstehen erst durch den Konsum: körperliche Schäden, zerbrochene Beziehungen, das brüchige Selbstwertgefühl. Gemeinsam treiben sie die Suchtspirale an, weil Alkohol beides scheinbar überdecken kann – die alten Wunden und die neuen Folgen.

Empathie statt Druck

Die personzentrierte Sicht setzt genau hier an. Sie schaut nicht zuerst auf Promillewerte oder Konsumtage, sondern auf die innere Spannung, die Menschen erleben. Im Mittelpunkt steht eine Haltung von Empathie, Akzeptanz und Echtheit. Veränderung geschieht nicht durch moralische Appelle oder Konfrontation, sondern durch die Erfahrung, ohne Bedingungen angenommen und verstanden zu sein.

Das Ziel ist nicht vorrangig Abstinenz, sondern ein stimmigerer Umgang mit dem eigenen Selbst. Abstinenz kann daraus erwachsen – oft langsamer, dafür stabiler. Wer sich nicht länger mit Selbstrechtfertigungen schützen muss, kann beginnen, die eigenen Widersprüche auszuhalten und neue Wege zu finden.

Der klare Spiegel des MI

Das Motivational Interviewing (MI) hat dieselben Wurzeln und ist heute eine der wirksamsten Methoden in der Suchtbehandlung. Es arbeitet mit dem Herausarbeiten von Diskrepanzen: der Kluft zwischen dem Ist-Zustand und einem gewünschten Soll-Zustand. Im Zentrum stehen die Folgen des Trinkens – körperlich, beruflich, familiär. MI ist damit besonders stark in der frühen Motivationsphase, wenn es darum geht, die Zweifel am eigenen Konsum zu sortieren und in Worte zu fassen.

Doch hier liegt auch der Unterschied: MI spiegelt vor allem die Konsequenzen des Konsums, während die personzentrierte Therapie tiefer gräbt und die ursprünglichen Inkongruenzen ans Licht holt – alte Verletzungen, Botschaften von „nur wenn … bist du wertvoll“ oder traumatische Erfahrungen. MI bringt Bewegung ins System, die personzentrierte Arbeit sucht die Wurzeln.

Ein Thema, das alle betrifft

Sucht ist kein Randphänomen. Alkoholprobleme ziehen sich durch alle Milieus, von der Werkbank bis ins Vorstandsbüro. Der personzentrierte Ansatz bietet hier eine Haltung, die nicht trennt zwischen „den Abhängigen“ und „den Anderen“, sondern die Widersprüche in den Mittelpunkt stellt, die jeder Mensch kennt. Genau darin liegt seine Stärke: Er sieht nicht nur den Konsum, sondern die Person – im Kampf mit einem Leben, das gegen sie zu trinken scheint.