Wir sollten aufhören, Menschen (und Männer) als toxisch zu bezeichnen

30.05.2023 | Lesezeit: 6 min

Immer mehr Menschen sind toxisch. Jedes schwierige oder destruktive Verhalten bei anderen wird toxisch genannt – und es gibt unzählige Anleitungen, wie man toxische Menschen erkennt, wie man sich ihnen gegenüber verhält oder besser noch, wie man sie vermeidet. In der Politik wird der Begriff verwendet. Psychologen und Therapeuten benutzen ihn neuerdings auch ganz ungeniert. In den Medien, besonders den sozialen, ist er dauerpräsent.

Ohne Frage, es gibt zutiefst destruktives Verhalten überall: am Arbeitsplatz oder in Beziehungen, in Freundschaften oder auch in der Schule. In solchen Situationen erleben wir sexuelle Übergriffe, Manipulationen, Ohnmacht. Wir erleben Hilflosigkeit, fühlen uns ausgenutzt, müssen uns ständig rechtfertigen, werden beleidigt. Um vielleicht im nächsten Moment wieder den ganzen Zauber und schöne Momente miteinander zu haben. Wir gehen einmal durch die Hölle – und dann immer wieder.

Aber jetzt mal konkret: Wer oder was ist eigentlich toxisch? Toxisch kann ein Arbeitsplatz sein oder eine bestimmte Kultur. Eine Politik kann es auch sein (vor allem, wenn sie nicht dezidiert links oder grün ist). Männlichkeit in ihrer ganzen Dimension ist so richtig toxisch. Mal sind toxische Menschen solche, die zu distanziert sind und keine Nähe zulassen – dann wieder solche, die übergriffig und grenzüberschreitend sind. Mal sind sie zu ehrlich und direkt, mal lügen sie ununterbrochen. Mal zeigen sie sich ständig als Opfer, dann wieder als Tyrannen.

Man sieht: Der Begriff ist reichlich ungenau. Er ist eigentlich nur dazu da, jemand anderem ein Etikett aufzukleben. Was verführerisch ist, keine Frage, aber drei Probleme mit sich bringt. Zum einen beruht das Konzept auf einem zweifelhaften Fundament, zum anderen geht es uns damit nicht besser. Und schließlich hat dieser Stempel für Betroffene fatale Konsequenzen.

Fangen wir mit dem ersten Problem an, dem Fundament. Die Vorstellung von einer toxischen Person lässt sich auf die klinische Kategorie der Persönlichkeitsstörungen zurückführen. Hierbei handelt es sich um eine nebulöse Gruppe von Diagnosen, die durch eine angeblich lebenslange, unveränderliche zwischenmenschliche Störung definiert sind. Obwohl die Persönlichkeitspathologie vom Mainstream anerkannt ist, wird sie von Klinikern heftig diskutiert.

So ist beispielsweise die narzisstische Persönlichkeitsstörung so umstritten, dass sie beinahe aus dem 2013 erschienenen offiziellen Handbuch für psychiatrische Störungen in den USA (dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders oder DSM) gestrichen worden wäre, unter anderem, weil sich die Kliniker nicht darauf einigen konnten, was genau sie ist. Die klinischen Instrumente zur Bewertung einer Persönlichkeitsstörung sind unzureichend, doch diese klinische Schwäche hat die Verbreitung des Konzepts nicht beeinträchtigt.

Der Psychiater und Historiker Jonathan Metzl hat dokumentiert, wie sich klinische Kategorien im Zuge des kulturellen Wandels entwickeln und wandeln. Wenn Influencer und Fernsehkrimis Geschichten über Narzissmus, Persönlichkeitsstörungen oder Toxizität erzählen, beginnen wir, diese Kategorien auch in realen Gerichtssälen, Kliniken, Büros und in unserem eigenen Leben wiederzuerkennen.

Wenn also ein Narzisst und ein Psychopath nicht unbedingt stabile wissenschaftliche Kategorien sind, was wissen wir dann über Menschen mit einer angeblich schwierigen Persönlichkeit?

  • Erstens, im Allgemeinen sind Menschen formbar.
  • Zweitens können unterschiedliche Situationen und zunehmende Erfahrung ein sehr unterschiedliches Verhalten hervorrufen.

Die Forschung deutet darauf hin, dass selbst schwierige Persönlichkeitsstile sich im Laufe der Zeit verändern können und nicht starr und unbeweglich sind. Experten für unlösbare Konflikte konzentrieren sich beispielsweise nicht so sehr auf die bockigen Teilnehmer, weil sie wissen, dass nicht die Menschen in dem Konflikt toxisch sind, sondern die Dynamik und die Situationen.

Auch der fundamentale Attributionsfehler hilft hier weiter. Sozialpsychologen haben herausgefunden, dass wir bei der Frage, warum unser Gegenüber tut, was er tut, verschiedene mentale Shortcuts oder Schemata benutzen. Der häufigste ist der sog. fundamentale Attributionsfehler. Menschen neigen dazu, bei anderen Menschen die Ursache für ihr Verhalten in deren persönlichen Eigenschaften zu vermuten, aber die Situation als mögliche Erklärung zu vernachlässigen. Wir überschätzen also systematisch die Persönlichkeit und unterschätzen die Situation, wenn es darum geht, das Verhalten unserer Mitmenschen zu erklären. (Bei uns selbst begehen wir den Fehler übrigens nicht, da nutzen wir die Umstände durchaus als Erklärung dafür, warum es gerade schlecht bei uns läuft.)

Nehmen wir mal das Beispiel eines toxischen Chefs. Die Sozialpsychologie zeigt neben dem fundamentalen Attributionsfehler auch, wie mächtige Menschen beeinflusst werden von der Macht, die ihnen verliehen wird. Sicher, der Chef ist ein Idiot, aber ihn als toxisch zu bezeichnen, geht an der Sache vorbei: ein hierarchischer Arbeitsplatz und unkontrollierte Machtpositionen sind das größere Problem, nicht irgendetwas, das ihm innewohnt. Man muss nicht mit einem idiotischen Chef sympathisieren, aber den Unterschied erkennen zwischen der Behauptung, er hat mich gemobbt (= sein Verhalten ist schlecht), und der Behauptung, er sei von Natur aus toxisch (= er ist schlecht).

Wenn die Wissenschaft schon nicht eindeutig ist, warum sollten wir uns dann gegenseitig als toxisch bezeichnen?

Vor allem, weil es emotional befreiend ist, anderen Menschen die Schuld für unser Leid zu geben. Besonders wenn wir gestresst sind, suchen wir nach Möglichkeiten, schwierige Situationen so darzustellen, als sei uns in irgendeiner Weise Unrecht getan worden. Dieser Zwang, anderen die Schuld zu geben, ist zum Teil das, was die Gurus propagieren, die sich auf Hilfe beim Thema „Toxizität“ spezialisieren. Sie empfehlen, auf Nuancen oder Selbstreflexion zu verzichten und stattdessen zu verurteilen und zu  verdammen. Damit sind wir beim zweiten Problem: Es geht uns damit nicht besser.

In schwierigen Situationen fragen wir uns ja manchmal leise, ob das Loch, in dem wir gerade sitzen, vielleicht auch unser Fehler war, ob auch wir ein kleines bisschen dafür verantwortlich sind. Dann jemand anderem die Schuld zu geben, schützt uns, denn es sagt uns: Mit uns ist alles in Ordnung. Wenn wir stattdessen unsere eigenen Gefühle erkunden würden und uns fragen, welchen Anteil wir selbst an der schädlichen Dynamik haben, warum wir eigentlich noch in dieser Firma für einen schikanösen Chef arbeiten oder warum wir mit jemandem zusammen sind, der uns emotional vernachlässigt – kann uns das viel eher aus der Situation heraus helfen. Wir könnten uns dabei selbst erkennen und letztlich auch den Mut aufbringen, eine solche dysfunktionale, unbefriedigende, quälende Situation zu verlassen oder zu ändern. Ohne die Schuld auf die Persönlichkeit der anderen Person zu schieben.

Okay, aber was ist, wenn die andere Person wirklich den ganzen Schaden angerichtet hat? Ist sie dann nicht echt toxisch? Die Forschung zeigt folgendes: Wenn wir glauben, dass andere Menschen feste Eigenschaften haben, die sich nicht ändern (einschließlich einer unveränderlichen „toxischen“ Persönlichkeit), führt das zu einer inneren Abwehrhaltung bei uns. Es führt dazu, dass wir nicht mehr zuhören und keine Grenzen setzen. Denn was nützt es, wenn sich der oder die andere ohnehin nicht ändern kann? Dann müssen wir ja schließlich auch nicht mehr mit ihm oder ihr reden. Umgekehrt hilft uns die Überzeugung, dass Menschen sich ändern können, die Perspektive zu wechseln und selbst bei extremen Konflikten Komplexität zu tolerieren.

Der dritte und letzte Grund dafür, diesen Begriff nicht mehr zu benutzen, sind die fatalen Konsequenzen, die das mitunter hat. Für denjenigen, der als toxisch bezeichnet wird, hat dieser Vorgang oft dauerhafte Auswirkungen. Solch ein Urteil fällt wie ein Fallbeil über den Delinquenten.

Der Begriff toxisch ist heftig, denn er bedeutet ja buchstäblich giftig. Und da der Begriff aus der Chemie bzw. Biologie kommt, also den Naturwissenschaften, schwingt dabei auch etwas wissenschaftliches und objektives mit. Das macht es umso härter für denjenigen, der mit diesem Begriff belegt wurde. Dabei ist der Begriff toxisch das ganze Gegenteil: höchst subjektiv. Wer ihn benutzt, hat selbst definiert, was oder warum jemand toxisch ist. Dabei gibt es keinen Raum für Nuancen, keine Selbstreflektion und kein Verständnis für die Macht der Situation (siehe fundamentaler Attributionsfehler).

Toxische Substanzen oder Pflanzen sollten tunlichst gemieden werden – und so verhält es sich auch mit den Menschen, die dieses Label bekommen. Abgestempelt, für unwürdig befunden, freigegeben für den Abschuss, ausgelöscht. Die Symbolik, die hier mitschwingt, ist unglaublich stark: Halte dich von dieser toxischen Person fern, sonst bist du das nächste Opfer. Oder: Es ist okay, ihn oder sie mit Nichtachtung zu strafen, denn er oder sie ist zutiefst toxisch.

Und schließlich gehört zu den fatalen Konsequenzen auch, dass die übliche, demokratische Beweislast hier auf den Kopf gestellt wird. Normalerweise muss derjenige, der jemanden beschuldigt, dafür Beweise erbringen. Das gilt allerdings nicht, wenn wir jemanden als toxisch bezeichnen. Damit muss der Betroffene klar kommen; er muss beweisen, dass er NICHT toxisch ist. Wenn ein Betroffener sich wehrt, macht ihn das dummerweise nur noch verdächtiger, noch toxischer…

Zusammengefasst: Das Konzept einer toxischen Person oder Persönlichkeit beruht erstens auf einem zweifelhaften Fundament. Es hilft uns zweitens überhaupt nicht dabei, mit destruktiven, dysfunktionalen Beziehungen und Menschen umzugehen; uns geht es damit nicht besser. Und drittens hat dieser Stempel für Betroffene fatale Konsequenzen.

Auch wir selbst werden irgendwann mal jemanden verletzen oder enttäuschen. Ziemlich sicher ist das auch schon passiert. Das ist schlicht unvermeidlich, denn ein Mensch zu sein bedeutet vor allem auch, Entscheidungen zu treffen. Entscheidungen für das eine und gegen das andere. Oder gegen jemand anderen. Sind wir dann selbst auch toxisch?